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Rede des Pr�sidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 2000 im Plenum
 
Am 27. Januar 1945 erreichten sowjetische Truppen das Konzentrationslager Auschwitz. 1.689 Tage lang waren dort Menschen gefoltert, gequ�lt, ermordet worden: Juden vor allem, Polen, Sinti und Roma, sowjetische Kriegsgefangene und H�ftlinge anderer Nationalit�t. Ihrer gedenken wir heute. Wir gedenken der �ber sechs Millionen Juden und der vielen anderen Opfer des nationalsozialistischen Rassen – und Gr��enwahns.

Nach der Befreiung der Konzentrationslager gingen grauenvolle Bilder um die Welt. Sie legten endg�ltig offen, was damals so viele nicht wissen und nicht wahrhaben wollten: Zw�lf Jahre lang wurden in Deutschland und im besetzten Europa Millionen Menschen verschleppt. In Konzentrationslagern mussten sie sich zu Tode arbeiten, fielen zynischen medizinischen Experimenten zum Opfer, starben an Hunger und Seuchen, wurden massenhaft exekutiert oder mit Gas erstickt.

Wir kennen heute die Abfolge der Ereignisse und die Namen der T�ter. Dennoch ist es schwer zu begreifen, dass sich ein deutsches Regime angema�t hat "zu entscheiden, wer die Erde bewohnen darf und wer nicht" (Hannah Arendt). Ein wenig hilflos sprechen wir von Barbarei und von einem tiefen Zivilisationsbruch.

Auschwitz – dieser deutsche Name einer kleinen polnischen Stadt westlich von Krakau ist zum Inbegriff eines V�lkermordes ohnegleichen geworden. Wie kein anderer Name steht Auschwitz f�r eine Schuld, die nicht vergeben werden kann und die nie vergessen werden darf. Wenn diese Schuld auch nicht �bertragbar ist – die Verantwortung, die daraus erw�chst, ist sehr wohl �bertragbar. Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, dass die Vergangenheit stets als Mahnung pr�sent bleibt: Die Verbrechen der Nationalsozialisten sind einzigartig. Wir m�ssen daf�r sorgen, dass sie es f�r immer bleiben.

1996 hat der damalige Bundespr�sident Roman Herzog den 27. Januar zum nationalen Gedenktag erkl�rt. Die heutige Gedenkstunde – die f�nfte – ist eine besondere. Heute ist Elie Wiesel bei uns – obwohl und weil er Auschwitz und Buchenwald �berlebt hat. Verehrter Herr Wiesel, Sie haben einmal offenbart, dass es viele Jahre gedauert hat, bis Sie �ber Ihre Erfahrungen �berhaupt sprechen und schreiben konnten. Seitdem haben Sie in Ihrem Werk und Wirken immer wieder eindringlich die Botschaft �bermittelt: "K�mpfen Sie niemals gegen die Erinnerung. Der Mensch ist f�hig zu wissen, was in der Vergangenheit geschah und wozu er imstande ist, er ist f�hig zur Verantwortung."

Es gibt Zeichen daf�r, dass wir in Deutschland auf dem Weg sind, diese Botschaft anzunehmen: Ich denke an den Entsch�digungsfonds f�r NS-Zwangsarbeiter, der nun – gut 54 Jahre nach Kriegsende – endlich zustande gekommen ist. Ich appelliere nachdr�cklich an die deutsche Wirtschaft, sich mehr als bisher an diesem Fonds zu beteiligen. Wenn auch Geld allein keine Schuld abtragen kann, ist dieser Fonds doch ein �berf�lliges Zeichen von Reue und Respekt gegen�ber denen, die damals von Deutschen ausgebeutet und misshandelt worden sind.

Ich denke an die Entscheidung des Deutschen Bundestages, mitten in Berlin eine St�tte des Erinnerns und Gedenkens zu bauen. Nach einer mehr als zehnj�hrigen Debatte bekunden wir heute, dass wir mit dem Bau eines Mahnmals f�r die ermordeten Juden Europas beginnen. Der Auschwitz-Gedenktag ist der richtige Tag daf�r – um so mehr, als wir diesen Gedenktag erstmals in Berlin begehen. Uns allen ist bewusst, dass viele Menschen in aller Welt unsere neue alte Hauptstadt mit Skepsis und Sorge betrachten. Berlin war die Zentrale der T�ter. Der Umzug nach Berlin bedeutet, dass wir uns gerade diesem Kapitel unserer Geschichte stellen. Er verpflichtet uns, immer wieder daran zu erinnern, wie viel Unrecht und wie viel Unheil von hier ausgegangen sind.

Schlie�lich denke ich an die Offenheit, die Ehrlichkeit und die Ernsthaftigkeit, mit der hier im Bundestag �ber den Umgang mit der Vergangenheit debattiert worden ist. Wenn es denn stimmt, dass das Parlament auch ein Spiegel der Gesellschaft ist, dann d�rfen wir auch die Debatte �ber die umstrittene Wehrmachtsausstellung als ein Zeichen daf�r nehmen, dass Ihre Botschaft angekommen ist, verehrter Herr Wiesel.

Zugegeben: Es hat lange gedauert, bis wir uns offen und einhellig zu unserer Verantwortung f�r die Vergangenheit bekannt haben. Fritz Stern hat das Wegsehen "die furchterregende Signatur unseres Jahrhunderts" genannt. Neben aufrichtiger Besch�ftigung mit der Vergangenheit gab es viel zu lang und viel zu viel Flucht aus der Verantwortung, Schweigen �ber Unrecht, Verdrehen und Manipulation der Wahrheit.

Das galt f�r die DDR noch mehr als f�r die Bundesrepublik. Ich habe in der DDR erlebt, wie der Antifaschismus von einem autorit�ren Staat instrumentalisiert und diskreditiert worden ist. Man hat das Schwerbegreifliche zu ein paar Lehrformeln �ber den Faschismus zurechtgestutzt, andere Teile der Geschichte aber verdr�ngt und tabuisiert. Nun m�ssen wir Deutsche uns einer doppelt belasteten Vergangenheit stellen. Mit der Einheit Deutschlands ist die Auseinandersetzung �ber den Umgang mit unserer Geschichte komplexer, vielschichtiger und in vielerlei Hinsicht sicherlich schwieriger geworden.

Ich sehe darin aber auch neue Chancen. Denn mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Mauer ist es nun m�glich geworden, dass die Deutschen in Ost und West eine gemeinsame Verantwortung f�r alle Teile ihrer Geschichte annehmen. Wir haben die Chance, jenseits aller verordneten Geschichtsbilder aus der Vergangenheit zu lernen und ein Geschichtsbewusstsein zu entwickeln, das nicht ideologischen oder politischen Zw�ngen unterworfen wird.

Ich wei� aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist, ein ehrliches, ein pers�nliches Verh�ltnis zur Geschichte zu bekommen, wenn Geschichte "verstaatlicht" wird. Denn Erinnerung ist immer auch subjektiv, vielstimmig, nicht kommandierbar. Stets ist unser Erinnern verwoben mit unseren eigenen Biografien, es ist verwickelt in unsere Gegenwart.

Um die angemessene Form des Gedenkens und Erinnerns ist in letzter Zeit viel gerungen, ja gestritten worden. Dabei hat sich gezeigt, dass ein Zuviel ebenso als problematisch empfunden werden kann wie ein Zuwenig. Immer mehr Menschen empfinden Trauer als l�stig und lehnen Gedenktage als leere Rituale ab, ja einzelne gehen sogar so weit, uns "Kreuzz�ge gegen das Vergessen" vorzuwerfen. Dar�ber m�ssen wir reden. Doch wir sollten nicht dar�ber reden, ob wiederkehrende Gedenktage sinnvoll sind, sondern wie sie sinnvoll bleiben k�nnen. Es geh�rt zu unserem nationalen Selbstverst�ndnis, dass wir den Umgang mit unserer Geschichte nicht nur zur Privatsache jedes einzelnen erkl�ren. Wir k�nnen und wir wollen auf �ffentliches Gedenken nicht verzichten. Wir m�ssen uns - gemeinsam und jeder f�r sich – immer wieder der M�he unterziehen, unserem Gedenken Sinn zu geben und seinen Sinn aufzusp�ren.

Auch das soll dieser Gedenktag ausdr�cken, den sich Roman Herzog als "nachdenkliche Stunde inmitten der Alltagsarbeit" gew�nscht hat und der nicht nur hier im Bundestag begangen wird, sondern an vielen Orten in unserem Land: Zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit geh�rt das kollektive Gedenken ebenso wie die individuelle Erinnerung.

Mit dem Vergessen dagegen, w�rden wir nicht nur das fragile Vertrauen der Juden in aller Welt entt�uschen, sondern auch das neue, das demokratische, das europ�ische Deutschland in Zweifel ziehen.

Vergessen wir nicht: Es ist alles andere als eine Selbstverst�ndlichkeit, dass in Deutschland Juden mit Nichtjuden um die schwierige Vergangenheit ringen. Den wenigen, die der NS-Vernichtungsmaschinerie entkommen waren, schien vor 55 Jahren ein Bleiben im Land der T�ter unvorstellbar. Wer die Kraft dazu hatte, bereitete seine Ausreise vor. Dass dennoch Juden geblieben sind, dass nach und nach weitere zur�ckkamen, dass in Deutschland wieder Synagogen gebaut wurden und sich j�disches Gemeindeleben entfaltete – das ist ein gro�es Geschenk. 1950 wurde der Zentralrat der Juden in Deutschland gegr�ndet, der Unsch�tzbares geleistet hat f�r eine behutsame Ann�herung und eine allm�hliche Vers�hnung zwischen Juden und Nichtjuden in unserem Land. Ich m�chte diese Gedenkstunde nicht verstreichen lassen, ohne daf�r zu danken – ganz besonders Ignatz Bubis. Vor diesem Hintergrund erscheint die Instrumentalisierung des j�dischen Schicksals zum Zwecke der Vertuschung finanzieller Machenschaften als eine besonders schamlose Entgleisung.

Ignatz Bubis hat kurz vor seinem Tod leider eine sehr pessimistische Bilanz gezogen. Doch er hatte Gr�nde zur Skepsis und zur Sorge: Im vereinten Deutschland sind Ausl�nder ermordet, Behinderte und Obdachlose angegriffen, j�dische Friedh�fe gesch�ndet worden. Das sind Verbrechen, die niemand leichtfertig als "Ausrei�er" abtun darf. Wenn wir eines aus der Geschichte gelernt haben, dann doch dies: Es w�re fatal, wenn sich eine schweigende Mehrheit nicht "zust�ndig" f�hlte f�r das, was in unserem Land passiert. Wir alle sind aufgefordert, ausl�nderfeindliche, rechtsradikale und antisemitische Gewalt offen und couragiert abzuwehren. Wie fest das demokratische Bewusstsein in unserer Gesellschaft verankert ist, das erweist sich darin, wie wir mit den Menschen zusammenleben, die hier "fremd" sind, die in der Minderheit sind oder an den Rand der Gesellschaft gedr�ngt wurden.

Zum Gl�ck gibt es in Deutschland auch viele, die die Ursachen von Gewalt – gerade bei Jugendlichen – aufsp�ren und bek�mpfen helfen. �berwinden wir die falsche Faszination durch Gewalt und Gewaltt�ter und richten unsere Aufmerksamkeit auf diejenigen, die sich wehren, die nicht wegsehen oder gleichg�ltig sind, sondern die allt�glich Engagement und Zivilcourage zeigen! Das ist die richtige, die sinnvolle Konsequenz aus Erinnern und Gedenken. Zum Gl�ck gibt es viele engagierte B�rgerinnen und B�rger, die sich in ihrem Alltag aktiv f�r unser Gemeinwesen engagieren. Unterst�tzen wir sie, st�rken wir die Mehrheit derer, die sich verantwortlich f�hlen f�r das, was in unserem Land passiert.

Wir Deutschen haben uns mit dem Grundgesetz verpflichtet, zuallererst die Menschenw�rde zu respektieren und die Menschenrechte zu verteidigen. Beweise des Vertrauens in unsere Demokratie sind vor allem auch unsere Beziehungen zu Israel, die nach und nach entspannter und enger geworden sind. Allt�glich werden die Zeichen von Vergebung und Freundschaft aber nie sein. Es bleibt unsere Aufgabe, die Beziehungen zu Israel zu pflegen und ihre Besonderheiten und Probleme nicht zu verdr�ngen.

Vergessen wir nicht: Wir verdanken es der bindenden Kraft des Grundgesetzes, dass aus der ge�chteten Nation inzwischen ein geachtetes Mitglied der internationalen V�lkergemeinschaft geworden ist. Daraus erw�chst die Verpflichtung, dass wir uns als verl�ssliche Partner im vereinten Europa f�r eine enge Zusammenarbeit und f�r ein friedliches Zusammenleben der V�lker einsetzen.

Wir alle hoffen, dass das kommende Jahrhundert friedlicher, gerechter und menschlicher wird als das vergangene, das Hannah Arendt das "grausamste Jahrhundert der �berlieferten Geschichte" genannt hat. Deshalb m�ssen wir das Wissen �ber die menschenverachtende Brutalit�t des NS-Systems, �ber die Ignoranz und Verf�hrbarkeit der Masse und �ber das unermessliche Leid der Opfer mitnehmen in das neue Jahrhundert. Heute halten viele junge Menschen ihre Freiheiten und Rechte f�r selbstverst�ndlich und meinen, dass der Nationalsozialismus nichts mit ihrem Leben zu tun habe. Ihnen m�ssen wir klarmachen, dass sich Vergangenheit und Gegenwart immer wieder begegnen.

Was k�nnte die Anteilnahme und das Verantwortungsgef�hl f�r die gemeinsame Zukunft besser wach halten als die pers�nliche Begegnung zwischen Juden und Nichtjuden? Sie, verehrter Herr Wiesel, haben einmal gesagt: "Allein die Tatsache, dass wir uns begegnen k�nnen, ist ein Zeichen von gr��ter, unermesslicher Hoffnung".

Ein Zeichen der Vergebung, der Freundschaft und der Hoffnung ist es auch, dass Elie Wiesel und Giora Feidman heute hierher gekommen sind. Elie Wiesel wird gleich zu uns sprechen; doch vorher spielt f�r uns Giora Feidman, der der verbindenden und vers�hnenden Kraft der Musik vertraut. Jetzt und hier wird zum ersten Mal ein Musikst�ck f�r Bassklarinette, Klarinette und Streicher erklingen, das Giora Feidman und Ora Bat Chaim eigens f�r diesen Tag komponiert haben. Ich empfinde das als eine Ehre und als ein gro�es Geschenk f�r uns alle, f�r das ich von Herzen dankbar bin. Dem Vertrauen, das Sie uns damit entgegen bringen, wollen wir gerecht werden.

 

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