Sehr
geehrter Herr Ministerpräsident Persson, sehr geehrte Herren Präsidenten und
Ministerpräsidenten, sehr geehrter Herr Wiesel, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Am 27. Januar 1945, also fast auf den Tag genau vor 55 Jahren, befreiten Soldaten der
Roten Armee die Vernichtungslager Auschwitz und Birkenau.
Das heißt: Befreien konnten sie dort nur noch etwas mehr als 7000,
größtenteils schwer kranke KZ-Opfer. 60 000 der Lagerinsassen hatte die SS in den Tagen
zuvor auf die berüchtigten "Todesmärsche" Richtung Westen gezwungen.
Mehr als eine Million Menschen waren allein in Auschwitz-Birkenau
zwischen März 1942 und November 1944 von den Nazis ermordet worden.
Der Name "Auschwitz" steht heute als schreckliche Metapher
für national-sozialistischen Rassenwahn, für den geplanten, kaltblütigen Mord an
Millionen Menschen: Juden zuallermeist, aber auch Sinti und Roma, Homosexuelle,
Behinderte, Kriegsgefangene. An Menschen, deren Leben eine verbrecherische Ideologie sich
angemaßt hatte, als "lebensunwert" zu vernichten.
"Auschwitz" war keine Naturkatastrophe. Menschliche Wesen,
meist Deutsche, hatten diesen Ort Schritt für Schritt in eine Mordstätte verwandelt - in
einen Ort des Zivilisationsbruchs schlechthin, einen Ort des namenlosen, andauernden
Entsetzens.
Deshalb haben wir uns heute nicht nur im Gedenken an die Opfer
versammelt. Unsere Konferenz kann sich nicht auf das feierliche Bekenntnis beschränken,
solche Barbarei nicht wieder geschehen zu lassen.
Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert "danach", gilt es
auch, Wege und Praxis des Erinnerns zu besprechen.
Uns zu unterstützen in einer Erziehung zu Menschlichkeit und
Zivilcourage - damit niemals wieder gewöhnliche Menschen im Namen verbrecherischer
Ideologien gewöhnliche Orte zu grausamen Hinrichtungsfabriken machen.
Es ist daher gut, daß sich diese große internationale Konferenz
mit so prominenter Beteiligung diesem Thema widmet.
Und ich danke stellvertretend Göran Persson, daß Schweden in den
vergangenen Jahren eine so aktive Rolle bei der Befassung mit dem Holocaust und der
Holocaust-Erziehung gespielt hat.
In einer Zeit, da neonazistische Gruppen die modernen, weltweiten
Kommunikationsmittel nutzen, um ihre menschenverachtenden Ideen zu verbreiten, müssen wir
unsere internationale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Haßpropaganda und
Gewaltverherrlichung verbessern.
Aber angesichts der zunehmenden Bereitschaft dieser Gruppen, ihre
Hetze auf die Straßen zu tragen, angesichts ihrer Gewaltbereitschaft bis hin zum Mord,
denke ich auch, daß wir sowohl die polizeiliche als auch die geistige Auseinandersetzung
mit Rassismus und Neonazismus verstärken müssen.
Wie so viele aus meiner Generation, die ja ungefähr so alt ist wie
die demokratische Bundesrepublik Deutschland, bin auch ich in meiner politischen
Entwicklung nachhaltig geprägt von der Auseinandersetzung mit dem Holocaust, von der
Debatte um Schuld und Verantwortung, die sich aus der Vergangenheit ergibt.
Ganz gewiß hat diese, seit Mitte der 60er Jahre sehr intensive
politische Diskussion zur Stabilität der demokratischen Ordnung und zur Wertebindung in
der bundesdeutschen Gesellschaft beigetragen.
Trotz mancher öffentlicher Erregung, die es um einzelne
Kontroversen und Meinungsäußerungen immer wieder gegeben hat, haben doch gerade auch
diese Debatten gezeigt:
Einen Schlußstrich unter die deutsche Geschichte kann niemand
ziehen, und die überwältigende Mehrheit der Deutschen will das auch nicht.
Einige Entscheidungen, die die Politik zu treffen hatte, werden
gerade in diesen Tagen wirksam: Heute vormittag hat das Bundeskabinett den Gesetzentwurf
beschlossen, mit dem die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft"
zugunsten der ehemaligen Zwangsarbeiter eingerichtet werden wird.
Morgen, am Gedenktag für die Opfer der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft, werden wir in Berlin offiziell den Baubeginn der vom Deutschen Bundestag
beschlossenen zentralen Gedenkstätte für die ermordeten Juden Europas einleiten.
Praktische Politik kann aber nicht die tagtäglich zu leistende
Arbeit des Erinnerns ersetzen.
"Arbeit" schon deshalb, weil das Erinnern an so dunkle
Momente unserer Geschichte stets auch ein Kampf des menschlichen Gedächtnisses gegen den
menschlichen Stolz ist.
Es bleibt unsere vordringliche Aufgabe, einem "Nachgeben"
des Gedächtnisses entgegenzuwirken. Das ist nicht allein dadurch zu erreichen, daß wir
über die Verbrechen aufklären und das Gedenken an die Opfer wachhalten.
Immer wieder - ich erinnere an die Diskussion über das gescheiterte
Attentat auf Hitler durch Johann Georg Elser - zeigen uns zeitgeschichtliche Kontroversen,
daß das öffentliche Nachdenken über den Widerstand gegen die nationalsozialistische
Diktatur noch längst nicht abgeschlossen ist.
Mir geht es dabei vor allem um den zivilen, um den nicht
organisierten Widerstand gegen Hitler.
Es ist wichtig, daß unsere Schüler über die Funktionsweisen des
national-sozialistischen Terror-Regimes Bescheid wissen. Und wir wollen, daß sich die
Jugendlichen in unseren Ländern mit dem Grauen des Holocaust auseinandersetzen. In der
Bundesrepublik ist dies seit langem ein fester Bestandteil des Unterrichts für alle
Schüler.
Aber ich denke, es wäre auch nützlich, wir würden unsere Jugend
ähnlich umfassend unterrichten über Menschen wie den Reviervorsteher Krützfeld oder den
Pfarrer Poelchau.
Der eine war - einfach durch beherzte Anwendung der Vorschriften -
in der Pogromnacht 1938 gegen die SS-Horden eingeschritten. Er wurde später zur Rede
gestellt, geschehen ist ihm nichts.
Der andere hat unter mancherlei Vorwänden etliche Verfolgte vor der
Gestapo schützen können. Menschen wie diese haben vielleicht nicht die "ganz
großen" Heldentaten vollbracht.
Aber sie haben uns gezeigt, daß elementar menschliches, ziviles
Verhalten auch unter den Bedingungen von Diktatur und Volksverhetzung zumindest in Grenzen
möglich war.
Wir sollten dies unserer Jugend zum Ansporn ihres Gedächtnisses,
aber auch ihres Stolzes sagen. Niemand kann und will die heutige deutsche Jugend in
Haftung nehmen für Taten, die sie nicht zu verantworten hat.
Aber ihnen die grausamen Verbrechen der Vergangenheit vor Augen
führen und ihnen die Beispiele nennen, wie dem Unrecht widerstanden werden kann - das
sollten und das müssen wir tun. Denn gerade die Vorbilder des Widerstandes gegen Terror
und Unrecht können Leitbilder für die heutige Jugend sein.
Deshalb auch haben all diejenigen, die, etwa bei den
"Lichterketten" auf Deutschlands Straßen, ihren Bürgerwillen für Freiheit und
Toleranz demonstriert haben, meinen Respekt.
Genau so wie all die meistens Ungenannten, die eben nicht wegsehen,
wenn Skinheads und Rechtsextremisten gegen Ausländer oder Behinderte pöbeln oder gar
Gewalt anwenden.
Daß der Holocaust mitten in der sogenannten
"zivilisierten" Welt möglich war, zeigt uns: Wir können eine aufgeklärte,
freie und friedlich-tolerante Gesellschaft nie für selbstverständlich halten. Wir
müssen um diese Freiheit Jahr für Jahr und Tag für Tag kämpfen.
Wir sollten uns vor dem Glauben hüten, daß die Zugehörigkeit zu
einer Nation oder Kultur - und sei sie noch so fortschrittlich und zivilisiert - immun
machen könnte gegen die Fehlbarkeit und Verführbarkeit der Menschen.
Deshalb müssen wir unsere Vergangenheit und Gegenwart immer wieder
kritisch betrachten und zur aktiven Toleranz, zur friedlichen Konfliktlösung, zum Respekt
für alle Menschen und ihre unveräußerliche Würde erziehen.
Dazu gehört selbstverständlich auch eine internationale Politik,
die sich die Verteidigung der Menschenrechte und der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit
und der Toleranz zum höchsten Anliegen macht.
Dazu gehört als gemeinsame Verpflichtung unserer Regierungen eine
Erziehung, die die Erinnerung an den Holocaust wachhält und dem Haß und der
Menschenverachtung den Kampf ansagt.
Zugleich dürfen wir aber nicht vergessen, daß eine solche
Erziehung nur gelingen kann, wenn jeder einzelne sich aktiv für eine tolerante, offene
und friedliche Gesellschaft einsetzt.