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Rede
des Bundespr�sident Johannes Rau
am Sonntag, 17.12.2000
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Liebe
Frau Springer,
meine Damen und Herren,
Ich gestehe, dass ich im Augenblick - auch als jemand, der Israel
lange kennt und gut zu kennen glaubt - mehr Fragen als Antworten
habe. Aber die Tatsache, dass es so viele Fragen gibt, ist kein
Grund, sich zu verschweigen. Und so will ich von diesem
Friedensprozess reden und daran erinnern, dass wir alle, in allen
politischen Lagern, in Europa, in den Vereinigten Staaten, in
Israel, auch auf der pal�stinensischen Seite, ein paar Jahre lang
den Begriff Friedensprozess mit einer Erl�uterung versehen haben.
Wir haben immer gesagt, er ist unumkehrbar. Ich frage mich heute:
Ist dieses Wort, das so mit dem Begriff Friedensprozess verbunden
ist, eine T�uschung gewesen? Und wenn ja, wer hat wen get�uscht?
Ich war vor wenigen Wochen in Israel. Ich hatte Gelegenheit, mit dem
Staatspr�sidenten Katsav zu sprechen, mit seinem Vorg�nger, mit
Barak, mit Peres, mit Vertretern aus dem Friedenslager und aus dem
Milit�r, und ich habe gro�e Unsicherheit versp�rt �ber die
Frage, ob und wie es weitergehe. Ich bin der Meinung, dass wir
Europ�er gefragt und gefordert sind. Allerdings nicht als die,
welche die amerikanische Position wegzudr�ngen versuchen, sondern
kl�rend, erkl�rend, assistierend helfend; und wenn wir Ratschl�ge
geben, dann sollten wir es behutsam tun. Vielleicht aber geben wir
den besten Rat, wenn wir Fragen stellen, die zum Weiterdenken
anregen.
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Woher kommt es, dass die H�hepunkte des Friedensprozesses
allem Anschein nach stets mit wachsender Gewalt verbunden
sind? So war es 1994, so ist es heute wieder. Wer profitiert
davon? Hat sich hier ein falsches Muster durchgesetzt nach der
Devise: Ergebnisse erh�lt man nur, wenn sie als eine
Erl�sung aus gesteigerter Gewalt empfunden werden? Ist diese
Gewalt inszeniert?
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Sind wir uns, sind sich die Beteiligten bewusst, dass zwischen
einer milit�risch �berlegenen Macht und einer Guerilla keine
Seite den Sieg auf Dauer f�r sich reklamieren kann?
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Sind wir uns bewusst, dass es im politischen Sinn sehr wohl
eine Zeit gibt, in der ein Ende der Gewalt kommen muss, wenn
man die Chance des Friedens nicht auf lange Zeit wieder
verspielen will?
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Und wenn man diese beiden Fragen bejaht, hei�t das nicht,
dass man auf eine Kompromissl�sung hinaus muss?
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Haben wir genug verinnerlicht, dass wir es mit drei Religionen
zu tun haben, die sich alle drei auf Abraham berufen? Und
haben wir das Wort Abrahams im Sinn: "Ich will dich
segnen, und du sollst ein Segen sein, und durch dich sollen
gesegnet werden alle V�lker auf Erden"? Ist uns bewusst,
dass das jeden Ausschlie�lichkeitsanspruch verbietet?
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Ich frage mich zum Beispiel, ob eine ausschlie�ende
Souver�nit�t �ber die Heiligen St�tten wirklich die
einzige L�sung ist. Ist sie realistisch? Gibt es nicht
Varianten, die eher zum Frieden beitragen?
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Lernen wir miteinander, dass Nachbarschaft n�chterne
Partnerschaft werden muss, dass es nicht Liebe sein muss, aber
Achtung. Und lernen wir, dass die Sorge f�r das Wohlergehen
des Nachbarn ein Beitrag zur eigenen Sicherheit ist.
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Sind Friedenskonzepte denkbar, ohne den Blick auf die
Interessen des Nachbarn zu werfen?
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Ich habe mich bei meinem letzten Besuch in Israel zum
Begr�bnis von Lea Rabin gefragt, wie wohl alle die, die um
sie trauern, ihre Friedensbotschaft weitergeben k�nnen. Ich
habe Pr�sident Katsav meine Sorgen sehr deutlich erkl�rt.
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Ist es im Interesse Israels, dass solche arabische Staaten,
die eine gem��igte Position vertreten, gegen ihren Willen in
das Lager der Radikalen gedr�ngt werden? Wem w�rde es
n�tzen, wenn im Nahen Osten neue Bruchlinien entstehen,
nachdem wir die alten in Europa und in der Welt endlich
�berwunden haben?
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Was ich hier zum Verh�ltnis zwischen Israel und Pal�stina
sage, das gilt auch f�r das Verh�ltnis Europas zum Nahen
Osten insgesamt. Die Entstehung eines gro�en Wirtschaftsraums
mit weniger Barrieren ist friedensichernd. Die Entstehung
neuer Bl�cke ist es nicht.
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Was konkret zu geschehen hat, wissen nur die
Verhandlungspartner. Da halte ich mich zur�ck. Aber ich habe
eine Vorstellung davon, auf welcher - sozusagen
philosophischen - Grundlage eine L�sung angestrebt werden
sollte, wenn sie Bestand haben soll und wenn sie den Radikalen
beider Seiten, die jede Einigung torpedieren wollen, das
Wasser abgraben soll.
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Es scheint ja letztlich, beim Scheitern von Camp David und dem
neuen Ausbruch der sogenannten Al-Aksa-Intifada, um den
Tempelberg zu gehen, den Ort, der drei Religionen heilig ist,
von denen zwei wiederum - in der Rechtsform eines Staates bzw.
eines Staates im Werden - Souver�nit�tsanspr�che an dieses
so kleine, aber so heilige "Grundst�ck" stellen.
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F�r mich folgt aus den gemeinsamen Quellen der drei
abrahamitischen Religionen, dass die dem Ort geschuldete
Achtung nur dann vollkommen ist, wenn mit ihr die Achtung der
Religionen untereinander einhergeht.
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Und darum muss eine L�sung so gestaltet sein, dass Israelis
und Pal�stinenser in Selbstachtung daraus hervorgehen
k�nnen. Nur so wird sie weitere Konflikte vermeiden, nur so
wird weiterer Hass vermieden.
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Achtung und Vergebung: darauf wird es ankommen. Und sie muss
die ganze schwere und schmerzhafte historische Last, die auf
diesem Ort liegt, einbeziehen.
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Und vielleicht das noch: Diese L�sung muss in einem Zeitraum
gefunden werden, in der die Chancen f�r die Wiederbelebung
gegenseitiger Achtung noch nicht verspielt sind. Damit meine
ich: jetzt.
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Mir scheint - und nur hier will ich mich in konkrete
Tagesfragen einmischen - dass der Wettbewerb der
Souver�nit�ten um den Tempelberg im Grunde ein ohnm�chtiges
Bem�hen ist. Eine Souver�nit�t, die die andere g�nzlich
ausschlie�t, wird kein vers�hnlichen Ergebnis finden.
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Und wenn ich die Presse verfolge, dann gewinne ich den Eindruck,
dass auch die Protagonisten der Verhandlungen das wissen.
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Es gibt eine F�lle von biblischen Zeugnissen daf�r, dass die
Friedensstifter das Land gewinnen werden, das die
Sanftm�tigen das Erdreich besitzen. Wenn's stimmt, dann muss
auch das Bild von denen stimmen, die, wie das einmal in der
Bibel hei�t, durch das Jammertal gehen und daselbst Brunnen
bauen.
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Gru�wort von
Bundespr�sident Johannes Rau zum 50j�hrigen Bestehen des
Zentralrates der Juden in Deutschland f�r die Allgemeine
J�dische Wochenzeitung vom 19. Juli 2000
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Der
Zentralrat der Juden in Deutschland wird f�nfzig Jahre alt.
Dieses Jubil�um ist ein guter Anla� innezuhalten und
zur�ckzublicken auf die Zeit und die Lage in Deutschland im Jahr
1950: Da war die Bundesrepublik Deutschland ein Jahr alt. Da lag
das Ende der national-sozialistischen Gewaltherrschaft erst f�nf
Jahre zur�ck. Und da waren die Spuren des Krieges noch �berall
zu sehen. Da war das ganze Ausma� der Vernichtung sichtbar, die
die national-sozialistische Tyrannei �ber die Welt gebracht
hatte. Hass und Gewalt des Regimes hatten sich besonders gegen die
Juden in Deutschland und Europa gerichtet. Der Schmerz und die
Trauer der �berlebenden waren uns�glich. Die Fragen nach dem
Warum alles Geschehenen verlangten nach einer Antwort. In dieser
Situation gr�ndeten die Juden den Zentralrat.
Damals lebten in Deutschland nur gerade noch zwanzigtausend Juden.
Inzwischen sind es zirka hunderttausend. Daf�r bin ich dankbar.
Die Juden in Deutschland haben mitgeholfen, dass die
Bundesrepublik Deutschland wieder ein gleichberechtigter Partner
in der Gemeinschaft der V�lker werden konnte. Der Zentralrat der
Juden in Deutschland gab immer wieder Anst��e f�r das Gespr�ch
und den Dialog, auch zwischen Juden und Christen, Deutschen und
Israelis. Ich erinnere besonders an die beiden M�nner, die mit
ihren unterschiedlichen Gaben die Arbeit in den vergangenen Jahren
ma�geblich gepr�gt haben: Heinz Galinski und Ignaz Bubis, der im
vergangenen Jahr gestorben ist.
Heute stellt besonders die Zuwanderung von Juden aus den Staaten
der fr�heren Sowjetunion den Zentralrat der Juden und das
j�dische Gemeindeleben vor neue Aufgaben. Ich hoffe, dass die neu
hinzugekommenen Gemeindeglieder mit ihren unterschiedlichen
Traditionen eine Heimat in Deutschland finden werden. Den
Zentralrat und die j�dische Gemeinde dabei zu unterst�tzen, ist
eine wichtige Aufgabe.
Seit seiner Gr�ndung ist es ein Schwerpunkt der Arbeit des
Zentralrates, j�dische Identit�t in Deutschland zu st�rken und
gleichzeitig die Zusammenarbeit mit der nicht-j�dischen Umwelt zu
suchen. So sind neue Br�cken zwischen Juden und Nicht-Juden
entstanden. Vor allem die junge Generation bedarf der besonderen
Vermittlung von Werten und Traditionen. Ich freue mich dar�ber,
dass sich der Vorsitzende des Zentralrates, Paul Spiegel, dieser
wichtigen Aufgabe verst�rkt zuwendet. Und ich w�nsche mir, dass
es auch in Zukunft gelingt, gerade der nachfolgenden Generation
die Sch�nheit und die Vielfalt j�dischen Lebens nahe zu bringen.
Ich gratuliere dem Zentralrat der Juden in Deutschland zum
f�nfzigj�hrigen Bestehen. Ihm w�nsche ich, dass seine Arbeit
auch weiterhin von Vers�hnung, Traditionsbewu�tsein und
Zukunftshoffnung gepr�gt bleibt; uns allen indes, dass wir die
M�glichkeiten erkennen, die darin f�r unser Land liegen.
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Rede bei der
Sondersitzung des Deutschen Bundestages aus Anlass des Gedenktages
f�r die Opfer des Nationalsozialismus am 26. Januar 2001
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I.
Wer bei der letzten freien Reichstagswahl 1932 gew�hlt hat, der
ist heute 90 Jahre und �lter. Der letzte Abgeordnete, der 1933
gegen das Erm�chtigungsgesetz gestimmt hat, Josef Felder, ist vor
wenigen Wochen im Alter von 100 Jahren gestorben, und wir haben
seiner hier gedacht. Wer heute vierzehn oder auch drei�ig Jahre
alt ist, f�r den kann die Zeit der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft �hnlich weit weg sein wie der Beginn des 20.
Jahrhunderts, als es in Deutschland noch einen Kaiser gab.
Betrachten wir indes die Vergangenheit nicht allein mit einem
Kalender, sondern mit dem Familienalbum in der Hand, dann
ver�ndert sich unsere Wahrnehmung. Die meisten Drei�igj�hrigen
haben Eltern, die selber w�hrend des Dritten Reiches Kinder
waren, und die F�nfzehnj�hrigen haben Gro�eltern, die im
Dritten Reich jung oder junge Erwachsene waren. In vielen L�ndern
der Welt leben Menschen, zu deren Familiengeschichte die Bedrohung
und die Verfolgung durch die Nationalsozialisten geh�ren, die
Erinnerung an Deportation, an Konzentrationslager und an die
Ermordung von Eltern und Gro�eltern, von Geschwistern, von
Verwandten und Freunden.
Wir sind heute hier im Bundestag zusammengekommen, um ihrer zu
gedenken, aller Opfer des Nationalsozialismus. Dazu geh�ren auch
die Zwangs- und Sklavenarbeiter. Daraus haben wir erst sp�t, f�r
viele Opfer zu sp�t, die n�tigen Konsequenzen gezogen. Ich hoffe
sehr, dass die ersten Zahlungen bald m�glich werden.
Wenn wir in der eigenen Familie oder mit Freunden und Bekannten
�ber ihre Erlebnisse und Erinnerungen sprechen k�nnen, dann
r�ckt ihre Zeit der unseren n�her. Wir wissen, dass das Bild von
der Zeit des Nationalsozialismus bis heute entscheidend gepr�gt
wird von Geschichten, die in den Familien erz�hlt werden. Das
gilt f�r die Familien von Verfolgten genauso wie f�r die
Familien von T�tern, von Mitl�ufern und Zuschauern. Diese
"Familiengeschichten", aber auch das Interesse an Filmen
�ber die Zeit des Nationalsozialismus, an Biographien und an
Zeitzeugenberichten zeigen, dass dieser Teil unserer Geschichte
immer noch in unserem Bewusstsein ist und uns besch�ftigt. Davon
zeugen auch die vielen lokalen und regionalen Gedenkst�tten, die
Ausstellungen und historischen Initiativen, f�r die ich dankbar
bin.
Neben dem Interesse daran, etwas �ber die gro�e Politik, aber
auch �ber den Alltag zu erfahren, gibt es jedoch auch ein -
allerdings nur selten offen ausgesprochenes - Unbehagen, ja einen
Unwillen gegen�ber dem, was als staatlich verordnetes Erinnern
empfunden wird. Dieser Unwille richtet sich zum Teil gegen die
Lehrer und die Schulen, die heute f�r das Empfinden vieler
Sch�ler das Dritte Reich und den Holocaust eher zuviel als zu
wenig behandeln. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass
fr�her das Gegenteil beklagt wurde. Nach meinem Eindruck d�rfen
wir auch in dieser Frage nicht mehr von den Schulen erwarten, als
sie leisten k�nnen.
Unbehagen und Unwille richten sich zum Teil auch gegen
Erinnerungsst�tten wie das geplante Holocaust-Mahnmal und gegen
offizielle Gedenkveranstaltungen wie die heutige. Aus Anlass des
f�nfzigsten Jahrestags des Kriegsendes habe ich vor sechs Jahren
im Bundestag schon darauf hingewiesen, dass die Politik dieses
Unbehagen und diesen Unwillen nicht ignorieren darf. Wir d�rfen
nicht zulassen, dass diese Gef�hle von denen ausgebeutet werden,
die auf Klitterung und F�lschung der Geschichte aus sind und die
damit den Boden bereiten wollen f�r neue Ausgrenzung, f�r neuen
Hass und daf�r, dass bestimmten Menschen und bestimmten Gruppen
von Menschen die Menschenw�rde abgesprochen wird.
Wir m�ssen uns mit den Gr�nden f�r diesen Unwillen und dies
Unbehagen auseinandersetzen. Wir kennen sie doch alle, aber wir
sprechen zu wenig dar�ber. Wer kennt nicht den Verdacht, das
�ffentliche Erinnern sei eine besondere Form des Wohlverhaltens
gegen�ber dem Ausland? Wer hat noch nicht die Klage geh�rt, dass
in den Schulen zuviel des Guten getan werde, so dass Sch�ler sich
�berf�ttert f�hlen? Wer ist noch nicht danach gefragt worden,
warum das, was man doch l�ngst wisse, st�ndig wiederholt werden
m�sse? Wer von uns ist nicht schon dem Missverst�ndnis begegnet,
dass Gedenkst�tten und Gedenktage jeder neuen Generation ein
Schuldgef�hl vermitteln sollen? Nicht jeder, der so fragt, tut
das in b�ser Absicht. Darum w�re es falsch, alle, die so fragen,
pauschal in die rechtsextreme Ecke zu stellen und ihre Fragen vom
Tisch zu wischen. Wir m�ssen Antworten geben. Das wird uns nur
dann gelingen, wenn wir uns immer wieder des Sinns vergewissern,
den Gedenkst�tten und Gedenktage haben.
II.
Wir erinnern uns ja nie ein- f�r allemal. Jeder von uns hat schon
die Erfahrung gemacht, wie sich im Laufe eines Lebens die Deutung
des Zur�ckliegenden weiterentwickelt und ver�ndert. Das gilt
auch f�r V�lker und Nationen. Unsere Sicht der Vergangenheit
�ndert sich. Jede Generation muss sich mit der Geschichte des
eigenen Landes neu auseinandersetzen. Dabei geht es nicht so sehr
um neue Fakten oder neue Spuren. Die Bedeutung aber, die wir
Fakten und historischen Ereignissen beimessen, kann sich mit der
Zeit �ndern, manchmal sogar entscheidend. Das ist, wie wir alle
wissen, keine akademische Frage. Das Bild, das wir uns von der
Vergangenheit machen, bestimmt unsere politische Gegenwart.
Geschichtsbilder haben Wirkungsmacht f�r die Interpretation der
Gegenwart und f�r die Gestaltung der Zukunft. Bei uns in
Deutschland gilt das ganz besonders f�r die Geschichte des
Dritten Reichs.
Wir erinnern uns an diese Zeit vor allem anderen der Opfer wegen.
Darum haben wir seit einigen Jahren einen eigenen Gedenktag f�r
die Opfer des Nationalsozialismus, zu dem wir heute zusammen
gekommen sind. Wir gedenken nicht um der Wirkung nach au�en
willen, sondern um unserer selbst willen. Wir erinnern uns an die
Vergangenheit auch mit Blick auf die Zukunft. Wir vergewissern uns
damit unserer Grundwerte und bekr�ftigen, dass wir an ihnen
festhalten wollen.
III.
Man braucht nie etwas �ber das Dritte Reich und seine Gewalttaten
geh�rt zu haben, um zu wissen, dass man Menschen nicht verfolgt,
misshandelt und totschl�gt. Wir m�ssen sogar die Erfahrung
machen, dass alles Wissen �ber den Nationalsozialismus
rechtsextreme Gewalt und menschenfeindliche Gesinnung nicht
verhindert. Es gibt Rechtsextremisten, die viel �ber das Dritte
Reich wissen, mehr als manche andere. Aus Wissen allein entstehen
weder pers�nliche Moral noch ethische �berzeugungen.
Die Erinnerung kann uns helfen zu verstehen. Sie kann uns zeigen,
was geschieht, wenn die W�rde des Menschen von Staats wegen
au�er Kraft gesetzt wird, wenn die Vernichtung der W�rde des
Menschen Ziel und Inhalt der Politik ist. Indem die
Nationalsozialisten das Leben bestimmter Menschen oder Gruppen
f�r lebensunwert erkl�rten, richteten sie sich gegen die
Menschlichkeit selber.
Darum haben die V�ter und M�tter unseres Grundgesetzes die
Unantastbarkeit der W�rde jedes einzelnen Menschen an den Anfang
der Verfassung gestellt. Das ist die Konsequenz, die sie aus der
nationalsozialistischen Herrschaft gezogen haben. Das ist der
Grundkonsens der Republik. Ethische �berzeugungen sind nie ein
f�r allemal gesichert. Sie m�ssen gelernt, und vor allem m�ssen
sie vorgelebt werden. Die Menschenw�rde ist ja nicht erst dann in
Gefahr, wenn H�user angez�ndet und Menschen durch Stra�en
gehetzt werden.
IV.
Am 27. Januar 1945 hat die Rote Armee das Vernichtungslager
Auschwitz befreit. Wenige Monate sp�ter war Deutschland mit der
bedingungslosen Kapitulation vom Nationalsozialismus befreit. Bis
zum Schluss waren viele, vielleicht sogar die meisten Deutschen
dem Regime treu geblieben - wegen der staatlichen Propaganda oder
auch durch die gemeinsame Erfahrung des schrecklichen
Bombenkriegs.
So hat es lange gedauert, bis wir erkannt haben, dass die
milit�rische Niederlage wirklich auch die Befreiung und die
M�glichkeit f�r einen neuen Anfang war. Erst allm�hlich haben
wir zu w�rdigen verstanden, dass auch in der dunkelsten Zeit
viele Deutsche nicht nur anders gedacht, sondern auch anders
gehandelt haben. Wir haben gerade heute allen Anlass, dankbar an
jene Deutsche zu erinnern, die sich in ihrer Achtung der
Menschenw�rde nicht haben beirren lassen.
Gewiss: es hat damals sehr viel weniger Widerstand und Hilfe f�r
Verfolgte gegeben, als wir uns das im nachhinein w�nschen. Es hat
aber mehr gegeben, als wir lange gewusst haben. Es hat von Anfang
an organisierten und individuellen Widerstand in Deutschland und
unter den Deutschen im Exil gegeben. Dazu geh�rten Kommunisten,
Gewerkschafter und Sozialdemokraten. Es gab den christlichen
Widerstand, es gab den Widerstand aus einer konservativen Haltung
heraus; es gab, wenn auch sp�t, Widerstand aus der Wehrmacht; es
gab den Widerstand von jungen Menschen wie den der "Wei�en
Rose". Es gab auch einen Mann wie Georg Elser, der f�r sich
allein entschieden hat, Adolf Hitler zu bek�mpfen.
Nicht weit von hier, in der Rosenthaler Stra�e, hatte Otto Weidt
seine Blindenwerkstatt, in der er j�dische Mitb�rger vor der
Deportation bewahrt hat. Vor zwei Wochen ist im franz�sischen
Banyuls-sur-Mer, an der Grenze nach Spanien, ein Denkmal f�r die
Emigranten Hans und Lisa Fittko eingeweiht worden, die vielen
Menschen zur Flucht �ber die Pyren�en verholfen haben. Sie
geh�ren zu den M�nnern und Frauen, die zu Recht "stille
Helden" genannt werden.
Die Erinnerung daran kann die Verbrechen nicht zudecken und nicht
relativieren, die von Deutschen begangen worden sind - ich sage
ausdr�cklich: von Deutschen, nicht von den
Deutschen, aber auch nicht "im deutschen Namen" , wie
oft gesagt wird. Die Erinnerung an Widerstand und gelebte
Mitmenschlichkeit zeigt uns vielmehr, dass es selbst in der
Diktatur die M�glichkeit gab, sich f�r Menschlichkeit und gegen
Unmenschlichkeit zu entscheiden.
V.
Wenn wir uns an diese Zeit erinnern, an deutsche Schuld damals und
an unsere bleibende Verantwortung, dann nicht deshalb, weil wir
Deutschen besonders anf�llig w�ren f�r Rassismus und
Antisemitismus. Unsere Vergangenheit verpflichtet uns aber
besonders, auf die geringsten Anzeichen von Antisemitismus, von
Rassismus und von Angriffen auf die W�rde des Menschen zu
achten.
Jede Gewalttat ist schrecklich, von wem immer und warum immer sie
begangen wird. Wenn hinter Gewalttaten gegen Behinderte,
Obdachlose oder Fremde aber ausdr�cklich nazistisches oder
antisemitisches Denken steht, wenn nazistische Symbole oder
Ausdr�cke benutzt werden, dann alarmiert uns das zu Recht mehr
als andere kriminelle Handlungen. Gewaltt�tiger Rechtsextremismus
muss politisch und juristisch bek�mpft werden. Jeder und jede
muss sich auf unseren Stra�en und Pl�tzen, in U-Bahn und Bus
sicher f�hlen k�nnen. Das ist eine Aufgabe, die uns alle angeht,
in Ost und in West. Weil diese Aufgabe so wichtig ist, k�nnen wir
weder Verharmlosung noch Hysterie gebrauchen. Gewaltt�tiger
Extremismus existiert nicht nur am Rande unserer Gesellschaft,
aber er ist Sache einer kleinen Minderheit. Er bedroht unsere
Gesellschaft und unsere staatliche Ordnung nicht in ihrem Kern.
Wir m�ssen uns aber intensiv mit ihm auseinandersetzen. Das gilt
auch f�r seine geistigen Wegbereiter, seine Sympathisanten und
seine Unterst�tzer.
VI.
Wenn wir diese Auseinandersetzung erfolgreich f�hren wollen, dann
d�rfen wir keine falsche Vorstellung von dem haben, was der
Nationalsozialismus war. Wer ihn verstehen will, der muss ihn auch
begreifen als einen Teil der Geschichte der Moderne, der
Geschichte der totalit�ren Utopien. Der Nationalsozialismus -
auch ein Irrweg der Moderne: Das relativiert nichts, das nimmt
nichts zur�ck von deutscher Schuld, das r�hrt nicht an den
Zivilisationsbruch, f�r den Auschwitz steht.
Lange Zeit erschien uns das Dritte Reich als eine r�ckw�rts
gerichtete Epoche. Im Vordergrund unseres Bildes vom
Nationalsozialismus standen die Parolen der Blut- und
Bodenpropaganda oder der Germanenkult. Das war ein Fehler. Wenn
wir den Nationalsozialismus nicht als Teil der Geschichte des
zwanzigsten Jahrhunderts, ja, als Teil der Moderne begreifen, dann
wirkt er wie ein kosmisches Ereignis, das �ber uns gekommen ist,
an das wir uns mit Entsetzen erinnern, das aber mit unserer Welt
nichts zu tun hat.
VII.
Wir wissen aus der zeitgeschichtlichen Forschung �ber das Dritte
Reich, dass viele gesellschaftliche Gruppen im damaligen
Deutschland sehr bereitwillig den Nationalsozialismus unterst�tzt
haben, weil er ihre besonderen Interessen aufgriff und zu bedienen
verstand. Nicht zuletzt Akademiker und Wissenschaftler waren davon
�berzeugt, dass der Nationalsozialismus auf der H�he der Zeit
sei. Das war kein Zufall. Von vielen politischen Bewegungen der
Zeit unterschied er sich weniger in den Themen als in der
Radikalit�t seiner Antworten und in seiner Bereitschaft, sie
r�cksichtslos in die Tat umzusetzen. Dabei spielten Wissenschaft
und Forschung eine besondere Rolle. Lassen Sie mich dazu einige
Bemerkungen machen.
Es waren Wissenschaftler, die mit ihren Theorien �ber Rasse,
Eugenik und Selektion die NS-Ideologie vorbereitet und
weiterentwickelt haben. Es waren Juristen, die die Rassenideologie
in Paragraphenform gebracht und exekutiert haben. Es waren
Historiker und Bev�lkerungswissenschaftler, die die Ideologie vom
sogenannten Lebensraum im Osten und die Pl�ne f�r die sogenannte
Umvolkung entwickelt oder unterst�tzt haben. Es waren �rzte, die
Behinderte klassifiziert, an Zwillingen experimentiert und Kranke
und Alte get�tet haben. �rzte und Wissenschaftler waren es auch,
die Menschenexperimente in Konzentrationslagern durchgef�hrt
haben, um der eigenen Karriere willen. All das geschah mit der
Unterst�tzung traditionsreicher Forschungs- und
Wissenschaftseinrichtungen. Ich bin froh dar�ber, dass auch die
gro�en Wissenschaftsorganisationen sich nun mit ihrer Geschichte
im Dritten Reich auseinandersetzen.
Die Wissenschaftler, von denen ich spreche, waren nicht in allen
F�llen �berzeugte Nazis. Sie waren Wissenschaftler ohne jede
Selbstbeschr�nkung. F�r sie war der Zivilisationsbruch das Tor
zu neuen M�glichkeiten. Ein Historiker hat das einmal so
zusammengefasst: "Den Bruch mit religi�sen und ethischen
Traditionen empfanden die Forscher ... als Befreiung aus
�berkommenen moralischen Fesseln, als Chance zur Verwirklichung
ihrer spezifischen Forschungsziele."*) Die
biologistische Utopie des Nationalsozialismus konnte sich in
vielem auf wissenschaftliche Forschung in vielen L�ndern berufen.
Sie war der Versuch, mit Hilfe modernster Wissenschaft und Technik
ein rassistisches Menschenbild durchzusetzen und eine
Gesellschaftsordnung zu verwirklichen, die dem entsprach.
Die ersten Opfer der systematischen Selektions- und
Vernichtungspolitik waren Behinderte. Sie werden oft vergessen.
Inzwischen wissen wir, dass das Euthanasieprojekt personell,
institutionell und methodisch ganz eng mit der systematischen
Vernichtung der europ�ischen Juden verkn�pft war. Viel zu lange
haben wir nicht wahrgenommen und nicht anerkannt, dass auch Sinti
und Roma Opfer rassistischer Verfolgung waren, weil sie nicht dem
nationalsozialistischen Menschenbild entsprachen. Hier konnten
sich die Nationalsozialisten auf weit verbreitete Vorurteile und
Ressentiments st�tzen, die, wie der Antisemitismus, lange vor
1933 existierten. Wenn wir �ber die Opfer sprechen, d�rfen wir
auch die Homosexuellen nicht vergessen.
Vor wenigen Tagen habe ich bei Sebastian Haffner in seinen
Erinnerungen den hellsichtigen Satz gelesen: "Ist erst einmal
die grunds�tzliche und immerw�hrende Mordbereitschaft gegen
Mitmenschen geweckt, und sogar zur Pflicht gemacht, so ist es eine
Kleinigkeit, die Einzelobjekte zu wechseln." Und genau so kam
es.
VIII.
Der Nationalsozialismus bestand wahrlich nicht nur aus
Wahnvorstellungen. Er konnte sich in vielen Punkten auf das
st�tzen, was damals wissenschaftlich m�glich schien - in der
Medizin, in der Geschichtswissenschaft, in der
Entwicklungsbiologie, in der Rechtswissenschaft und in vielen
anderen Disziplinen mehr. Diesen wissenschaftlichen Positionen und
der Ideologie des Nationalsozialismus war die Auffassung
gemeinsam, dass die Menschen nicht nur unterschiedlich sind,
sondern auch unterschiedlich viel wert, dass man sie in
"lebenswerte" und "lebensunwerte" einteilen
k�nne; dass es erlaubt sei, Menschen auszugrenzen und zu
beseitigen; dass es erlaubt sei, Menschen zu z�chten.
Wissenschaft und Ideologie war die �berzeugung gemeinsam, dass
man alles machen d�rfe, was m�glich ist - wenn es nur n�tzt:
der eigenen Gruppe, dem eigenen Volk, der eigenen Rasse. Der Zweck
heiligte jedes Mittel.
Die Erinnerung daran ist ein immerw�hrender Appell an alle
Nachgeborenen, dass nichts �ber die Freiheit und die W�rde des
einzelnen Menschen gestellt werden darf. Sein Recht auf Freiheit,
auf Selbstbestimmung und auf Achtung seiner W�rde darf niemals zu
Gunsten angeblich h�herer Werte geopfert werden. Eine Ethik, die
auf diesen Grunds�tzen beruht, gibt es nicht umsonst. Wir m�ssen
uns dar�ber klar sein, dass ethische Grunds�tze einen Preis
haben, wenn wir sie ernstnehmen.
IX.
"Die W�rde des Menschen ist unantastbar". Wenn es uns
damit ernst wird und ernst ist, dann werden wir manches nicht
machen d�rfen, was wir machen k�nnten. Fortschritt ist kein
Selbstzweck und nicht automatisch ein Wert an sich. Angesichts der
technischen M�glichkeiten ist es wichtiger denn je, dass wir uns
darauf verst�ndigen, was wir unter Fortschritt verstehen und
welche Richtung wir dem Fortschritt geben wollen. Wir brauchen
einen Fortschritt nach menschlichem Ma�.
Was das bedeutet, muss von der Gesellschaft diskutiert und
demokratisch verbindlich festgelegt werden. Wer das als
Behinderung der Wissenschaft kritisiert oder solche Entscheidungen
allein der Wissenschaft selber �berlassen will, der verwechselt
die Aufgaben von Wissenschaft und Politik. Die Freiheit von
Wissenschaft und Forschung ist gebunden an die grundlegenden Werte
unserer Verfassung. Das ist Auftrag f�r Politik und Wissenschaft.
Die Erinnerung an unsere Geschichte hilft uns zu begreifen, was
geschieht, wenn Ma�st�be verr�ckt werden; wenn der Respekt vor
der W�rde jedes einzelnen verloren geht; wenn Menschen vom
Subjekt zum Objekt gemacht werden.
Wir k�nnen soviel wie noch nie. Damit w�chst auch die Gefahr,
den Respekt zu verlieren: vor dem Leben, vor der W�rde eines
jeden Menschen, so wie er ist. Die neuen wissenschaftlichen und
technischen M�glichkeiten stellen uns auf vielen Feldern vor
schwierige Entscheidungen. Richtig entscheiden k�nnen wir nur
dann, wenn ein Satz, wenn ein Grundsatz �ber allem steht:
"Die W�rde des Menschen ist unantastbar."
*) G�tz Aly: Macht, Geist, Wahn. Kontinuit�ten deutschen
Denkens, Berlin 1997, S. 91
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Gru�wort von
Bundespr�sident Johannes Rau bei der Er�ffnung der st�ndigen
Ausstellung des J�dischen Museums Berlin
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Das
Museum, das wir heute er�ffnen und das ab �bermorgen allen offen
steht, ist ein besonderes Museum.
Das J�dische Museum Berlin soll uns vertraut machen mit
"Zwei Jahrtausenden deutsch-j�discher Geschichte". Das
ist ein ehrgeiziges, ein eigentlich unerreichbares Ziel.
"Zwei Jahrtausende deutsch-j�discher Geschichte" zu
zeigen und anschaulich zu machen, das ist nicht nur ehrgeizig, das
ist auch dringend notwendig. Wie viele wissen denn, dass es schon
seit fast zweitausend Jahren j�disches Leben im Gebiet des
heutigen Deutschland gibt?
Die erste Urkunde, die j�disches Leben auf deutschem Boden
bezeugt, stammt aus dem Jahre 321. Damals bestimmte der r�mische
Kaiser Konstantin der Gro�e, dass Juden in die Kurie, heute
w�rden wir sagen: in den Stadtrat von Colonia Agrippina, dem
heutigen K�ln, gew�hlt werden k�nnen. Sie hatten also schon
seit Jahrzehnten dort gelebt.
Die meisten Juden, die sich sp�ter auch in anderen Zentren am
Rhein und an der Mosel angesiedelt haben, lebten zun�chst von der
Landwirtschaft. Sp�ter gab es unter ihnen Weinbergbesitzer,
Kaufleute, Handwerker oder �rzte.
Wir wissen bis heute wenig �ber den Alltag der Juden in St�dten
wie Speyer, Worms, Mainz und Trier in den ersten Jahrhunderten.
Sie haben in eigenen Gemeinschaften gelebt. Im fr�hen Mittelalter
waren sie den meisten ihrer christlichen Nachbarn fremd, aber sie
haben am Alltagsleben teilgenommen.
Mit den Kreuzz�gen hat sich das Verh�ltnis zwischen Christen und
Juden dramatisch ge�ndert. Schon w�hrend des ersten Kreuzzugs
(1096) haben Kreuzfahrer f�nftausend Juden umgebracht. Damit
begann eine neue, eine verh�ngnisvolle Phase der Geschichte der
Juden in Deutschland und in Europa, die - mit Unterbrechungen -
bis ins 18. Jahrhundert, bis zur Aufkl�rung, gedauert hat.
Das waren Jahrhunderte der Aussonderung, der Abgrenzung und der
Verfolgung: Juden mussten einen gelben Fleck auf ihrer Kleidung
tragen. Schritt f�r Schritt sind sie aus der Landwirtschaft, aus
dem Fernhandel und aus vielen Berufen vertrieben und in andere
Berufe hineingedr�ngt worden.
Sie wurden Opfer absurder Beschuldigungen und Phantasien.
"Ritualmord" und "Brunnenvergiftung" wurden
ihnen vorgeworfen. Auch f�r die Pest sollten sie verantwortlich
sein. Solche Anschuldigungen provozierten in Zeiten religi�ser,
wirtschaftlicher und politischer Konflikte �berall in Europa
Verfolgung und schreckliche Pogrome und dienten zugleich deren
Rechtfertigung.
II.
Ungeachtet aller Verfolgung, ungeachtet aller Ausgrenzung und
Benachteiligung hatten die j�dischen Gemeinden in Deutschland und
in Europa ein intensives religi�ses, soziales und kulturelles
Gemeindeleben. Dazu geh�rte eine reichhaltige jiddische
Literatur.
Jiddisch und Deutsch haben sich gegenseitig befruchtet. Im
Jiddischen hat sich eine fr�he Form des Deutschen erhalten, und
viele jiddische Lehnw�rter und Redewendungen finden sich noch
heute im Deutschen.
Juden haben nicht abgeschottet gelebt, sondern in regem Austausch
mit ihrer Umwelt. Sie wirkten �ber die eigene Gemeinschaft hinaus
in die ganze Gesellschaft hinein. Lassen Sie mich nur zwei
Beispiele nennen:
Die Schriften von Aristoteles waren Jahrhunderte lang in
Westeuropa unbekannt. J�dische Gelehrte waren es, die sie aus dem
Arabischen ins Lateinische �bersetzt und im 12. Jahrhundert
wieder nach Westeuropa gebracht haben.
Juden haben zur h�fischen Kultur Europas beigetragen. Ich
erinnere an S��kind von Trimberg, den Minnes�nger.
Juden haben also nicht erst seit der Aufkl�rung im 18.
Jahrhundert einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der deutschen
und der europ�ischen Kultur geleistet. Sie waren daran von Anfang
an beteiligt. Die Wurzeln Europas liegen nicht allein im
Christentum. Zu den Wurzeln Europas geh�rt auch die j�dische
Kultur - �brigens auch die islamische.
III.
Der Beitrag von Juden zur Wissenschaft, zu Kunst und Kultur in
Deutschland und Europa ist au�erordentlich, wenn wir nur an die
letzten drei Jahrhunderte denken. Stellvertretend f�r viele
andere nenne ich Moses Mendelssohn, Rahel Varnhagen, Heinrich
Heine, Max Liebermann, Kurt Tucholsky, Else Lasker-Sch�ler,
Albert Einstein, Theodor W. Adorno und den k�rzlich gestorbenen
Hans Mayer.
So unverwechselbar jede und jeder von ihnen war, so
unverwechselbar geh�ren sie zu der �ber Jahrhunderte gewachsenen
deutsch-j�dischen Kultur.
Das Museum, das wir heute er�ffnen, m�chte uns diese Kultur in
all ihren Facetten nahbringen. Das J�dische Museum Berlin will
und soll kein Holocaust-Museum sein.
Das ist eine wichtige und richtige Entscheidung. Heute wissen ja
nicht nur viele junge Leute von der Geschichte der Juden in
Deutschland und in Europa nur eines:
dass die Nationalsozialisten den Massenmord an den europ�ischen
Juden geplant und exekutiert haben.
Wir m�ssen die Erinnerung an diese Katastrophe wach halten. Das
tut auch dieses Geb�ude, das tut auch die Ausstellung, die wir
heute er�ffnen. Das darf aber nicht zu dem Fehlschluss f�hren,
dass der Holocaust die Summe der deutsch-j�dischen Geschichte
sei.
Dem m�ssen wir entgegen treten. Da leistet dieses Museum einen
ganz wichtigen Beitrag. Die Nationalsozialisten wollten die
europ�ischen Juden ja nicht nur physisch vernichten, sondern auf
immer auch dar�ber bestimmen, wie j�dische Kultur und wie die
deutsch-j�dischen Beziehungen dargestellt werden.
Darum ist es so wichtig, dass wir in diesem Museum Zeichen und
Zeugnisse der deutsch-j�dischen Beziehungen aus fast zweitausend
Jahren finden.
Wenn wir uns mit dieser Geschichte in ihrer Gesamtheit vertraut
machen, dann wird uns noch st�rker bewusst werden, wie schwer der
Verlust wiegt, den wir uns auch selber durch den Holocaust
zugef�gt haben.
IV.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts h�tte sich wohl niemand in
Deutschland das uns�glich Schreckliche vorstellen k�nnen, das
zwischen 1933 und 1945 geschehen ist.
Die staatsb�rgerliche Gleichstellung der Juden hatte sich langsam
und schrittweise durchgesetzt. Mit der Verfassung des Deutschen
Reichs von 1871 hatten Juden erstmals gleiche Rechte und Pflichten
wie alle anderen deutschen Staatsb�rger. Erst recht galt das f�r
die Verfassung der ersten deutschen Republik 1919.
Gewiss stellten sich seit dem Deutschen Kaiserreich antisemitische
Parteien zur Wahl. Weder im Kaiserreich noch in der Weimarer
Republik bis kurz vor 1933 konnten sie aber bestimmenden Einfluss
gewinnen.
Wir wissen nat�rlich, dass Juden in vielen gesellschaftlichen
Bereichen diskriminiert wurden. Ein besonders abschreckendes
Beispiel war der Historiker Heinrich von Treitschke mit seinen
antisemitischen Ausf�llen. Zur deutschen Geschichte geh�rt aber
auch, dass ein anderer Historiker, Theodor Mommsen, Treitschke
klar und unmissverst�ndlich entgegengetreten ist und die
deutschen Juden gegen Verleumdung und Infamie verteidigt hat.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schien vielen der
Antisemitismus ein Relikt aus unaufgekl�rten Zeiten, das die
moderne Gesellschaft zum Verschwinden bringen werde.
F�r viele Juden war Deutschland ganz selbstverst�ndlich ihr
Vaterland. Sie waren geachtete Staatsb�rger und fest in der
Gesellschaft integriert.
V.
Gerade deshalb stellen so viele seit einem halben Jahrhundert die
Frage, wie es zu Auschwitz kommen konnte. Auch ich kenne keine
schl�ssige Antwort.
Gewiss: Ohne den religi�sen, ohne den �konomischen und ohne den
rassistischen Antisemitismus w�re der Holocaust nicht m�glich
gewesen; einen Automatismus aber hat es nicht gegeben.
Bis heute h�rt man die Behauptung, die deutschen Juden h�tten
ihre Situation in der deutschen Gesellschaft v�llig verkannt.
H�tten sie die antisemitischen Tendenzen ernst genommen, dann
w�re ihnen klar geworden, wohin das f�hren wird.
Ich kann dieses Argument verstehen, weil es der Versuch ist, etwas
Unfassbares zu erkl�ren. Verst�ndlich ist dieses Argument,
richtig ist es nicht.
Es stimmt: In der Geschichte gibt es wenig, was wirkungsm�chtiger
ist als Traditionen, die �ber Jahrhunderte gewachsen sind.
Es stimmt aber auch, dass es in der Geschichte Br�che gibt, die
man nicht voraussehen kann und die man auch im R�ckblick nur
schwer verstehen kann, wenn sie �berhaupt zu verstehen sind.
Der Holocaust war ein solcher Bruch. Er war ein Zivilisationsbruch
und eben nicht das von Anfang an absehbare b�se Ende j�dischen
Lebens in Deutschland. Der Holocaust war weder im deutschen Wesen
noch in der deutschen Geschichte angelegt. Die Schuld f�r das,
was den deutschen und europ�ischen Juden angetan worden ist,
tragen die, die den Massenmord geplant, angeordnet und begangen
haben.
VI.
Zur Geschichte der deutsch-j�dischen Beziehungen geh�ren auch
Frauen und M�nner in Deutschland, die Juden in der Zeit
schlimmster Verfolgung gesch�tzt, versteckt und gerettet haben.
Einer dieser M�nner ist der Besen- und B�rstenbinder Otto Weidt,
der bis 1945 in seiner Blindenwerkstatt in der Rosenthaler Stra�e
hier in Berlin Juden besch�ftigt, andere versteckt und ihnen so
das Leben gerettet hat.
Otto Weidt geh�rt zu den "Stillen Helden", von denen es
viel weniger gegeben hat, als wir uns das heute w�nschen. Es
waren aber doch viel mehr, als wir lange gewusst haben.
Darum ist es ein ganz wichtiges Zeichen, dass die R�ume der
Blindenwerkstatt Otto Weidt, die fast unver�ndert erhalten sind,
heute als Dependance zum J�dischen Museum Berlin geh�ren.
Ich finde es gro�artig, dass auf diese Weise an M�nner und
Frauen erinnert wird, die gezeigt haben, dass es selbst im Dritten
Reich Entscheidungsspielr�ume und Handlungsm�glichkeiten gegeben
hat. Das oft geh�rte Argument, man habe eben nichts tun k�nnen,
h�lt vor dem Beispiel dieser Menschen nicht stand.
Auch das geh�rt zur Geschichte der deutsch-j�dischen
Beziehungen. Auch das sollten wir gerade an die jungen Menschen
weitergeben, die wir f�r die Geschichte interessieren wollen.
Engagement f�r Humanit�t und Menschenw�rde entsteht ja nicht
nur in der Auseinandersetzung mit den Schrecken der Vergangenheit.
Solches Engagement entsteht auch dann, wenn wir die
Lebensgeschichte von Menschen kennenlernen, die unter
schwierigsten Bedingungen Humanit�t gelebt haben.
Zivilcourage braucht positive Beispiele.
VII.
Das J�dische Museum Berlin m�chte bewusst kein Ausstellungsort
sein, an dem Geschichte in Vitrinen eingeschlossen und aufbewahrt
wird. Dies Museum will ein Lehr- und Lernort sein. Es soll ein Ort
der Begegnung werden f�r Jung und Alt, f�r Juden und
Nicht-Juden, f�r Menschen unterschiedlicher Herkunft und aus
unterschiedlichen Kulturen.
Das ist schon dem leeren Geb�ude gelungen: Seit seiner Er�ffnung
vor zwei Jahren haben fast eine halbe Million Menschen diesen
faszinierenden Bau besucht. Daniel Libeskind hat damit einen
unverwechselbaren Akzent gesetzt f�r die Architektur des neuen
Berlin.
Dies Museum wird das Bewusstsein f�r den gro�en Beitrag wecken,
den viele j�dische Deutsche und deutsche Juden zu unserer Kultur
geleistet haben.
Das J�dische Museum Berlin zeigt uns, dass j�dische und deutsche
Geschichte mehr sind als Holocaust und Drittes Reich.
Ich w�nsche mir, dass das Museum den Blick daf�r sch�rft, wohin
Vorurteile und Ressentiments f�hren k�nnen und daf�r, dass es
zu Toleranz und friedlichem Zusammenleben keine humane Alternative
gibt. Intoleranz und Missachtung fangen �brigens bei der Sprache
an.
VIII.
Die Ausstellung, die wir heute er�ffnen, w�re ohne die vielen
Leihgeberinnen und Leihgeber aus aller Welt nicht denkbar, die
bereit waren, dem Museum auch ganz pers�nliche Erinnerungsst�cke
zu �berlassen.
Das ist vielen gewiss nicht leicht gefallen angesichts der
Geschichte ihrer Familien. Ich m�chte ihnen allen, ob sie hier
sein k�nnen oder nicht, meinen Dank und meinen Respekt sagen.
Der Zeitpunkt der Er�ffnung des J�dischen Museums Berlin ist gut
gew�hlt. Am 18. September beginnt nach dem j�dischen Kalender
der siebte, der heilige Monat mit dem Fest Rosh Hashana. Ihm
folgen Jom Kippur und das Laubh�ttenfest. Mit diesen Festen
beginnt das j�dische Jahr. Damit stehen sie im Zeichen von
Erinnerung und der Hoffnung auf eine gute Zukunft.
Dass wir die Erinnerung wach halten und so zu einer guten Zukunft
beitragen, darin sehe ich das Geschenk dieses Tages.
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